*ein Augenblick

View Original

Kummerower See, die Wiederentdeckung des Moores


* Photos: © Peter Ulrich,
https://fotografie.peterulrich.net/

Feierabenddurchgangsverkehr auf der Landstraße 20 kreiselt um den zentralen Platz, in dessen Mitte ein Kirchturm seine Spitze gen Himmel ragt, dieser wolkenverhangen. Ein frischer Wind bläst bei verhältnismäßig warmen Temperaturen um die einstöckigen Häuserecken, säumend das Rondell – ein Edeka, ein Imbiss, eine Sparkassenfiliale. Ankunft an eben jenen Marktplatz in Neukalen, und eine herzliche Begrüßung durch die Bäckersfrau, bei der wir einen Kaffee und ein Stück Streuselblechkuchen erwerben. Nach einem kurzen Plausch und einer kulinarischen Empfehlung namens Knüppel sind wir für den nächsten Morgen verabredet, geöffnet ist ab 5:30 Uhr.

Beispielhaft: ein Tag in mecklenburgischen Weiten. Nach einem reichhaltigen Knüppelfrühstück wandern wir los. Wir, das sind drei Freunde aus alten Zeiten beständig bis in die Gegenwart. Nach ein paar Hundert Meter verlieren sich die letzten Häuser, die Geräuschkulisse verhallt – das Gackern der Hühner, das Wiederkäuen zweier Schafe,
das Schnurren eines Katers, müder Blick, und wir laufen querfeldein. Noch gibt es einen passierbaren Weg, an deren Rand sich Pappeln reihen, in ihren nackten Kronen halbschmarotzende Misteln verhakt. Doch schon wenige Schritte weiter verwandelt sich der Boden in einen sumpfigen Untergrund mit kleinen und großen Pfützen, dazu ein engmaschiges Schilfrohrdickicht. Zunächst versuchen wir uns durchzuschlagen, bleiben erfolglos, geben das Unterfangen einige Minuten später auf und kehren zurück. Es führt kein Weg an den Kummerower See.

Diese Weiten, diese unendlichen Weiten, die sich nun vor unseren Augen offenbaren und über uns der Wolkenhimmel, der gnädig mit uns ist, gelegentlich sogar ein Sonnenstrahl – ansonsten nichts, außer einem Pferdeäpfelhaufen und vereinzelt Hundepfotentapser. Ich lasse meinen Blick schweifen und frage mich, was sind das für riesige Flächen, wozu und wem dienen sie? Sodann ein kräftiges Kopfschütteln, anthropozentrischer Gedankengang. Nein, hier, vor mir, entfaltet sich ein faszinierendes Feuchtgebiet. Es ist das Moor, welches Zeugnis ablegt über die Metamorphose einer Landschaftsform.

„O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt! –
O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!“[1]

Die Moore Mitteleuropas sind mit dem Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren entstanden und wachsen seit jeher beständig, einen Millimeter pro Jahr: Abgestorbenes Pflanzenmaterial fällt auf Böden mit hoher Wassersättigung und wird durch den Mangel an Sauerstoff nicht vollständig zersetzt, sondern konserviert – Torf entsteht. In diesen organischen Böden sind Unmengen Kohlenstoff gespeichert, den „die Pflanzen zuvor bei der Photosynthese als Treibhausgas Kohlenstoffdioxid (CO2) der Atmosphäre entzogen“[2] haben. In Zahlen: „Moore bedecken nur 3 Prozent der weltweiten Landfläche, speichern aber etwa doppelt so viel Kohlenstoff wie die gesamte Biomasse aller Wälder der Erde. Allein in Deutschland speichern sie 1,3 Milliarden Tonnen Kohlenstoff.“[3] Das ist die Geschichte eines intakten Ökosystems. Nun folgt die Erzählung über die Zerstörung und deren Folgen, am Beispiel Deutschlands. Seit dem 18. Jahrhundert wurden hierzulande Moorböden großflächig trockengelegt. Warum?
Weil die Urbanisierung vorangetrieben und die Landschaften nutzbar gemacht werden sollten. „Trockenlegung und systematische Erschließung […] galten als Rezept für wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt.“[4] So dienten immer größere Flächen der Agrar- und Forstwirtschaft, dem Siedlungsbau schließlich dem Torfabbau. Heute als fossiler Rohstoff deklariert, galt Torf wegen seiner guten Brenneigenschaften lange als zuverlässiger Energieträger, und wegen seiner Beschaffenheit optimal für die Verwendung im Gartenbau. Noch heute ist Deutschland einer der größten „Hersteller und Endverbraucher von torfbasierten Substraten“[5] – auf unseren Balkonen, hübsch geschmückt mit Geranien in Rot, Rosa und Weiß. Doch die Entwässerung der Böden hat erhebliche Auswirkungen: „[…] der über Jahrtausende im Torf gebundene Kohlenstoff [kommt] mit Sauerstoff in Berührung und oxidiert. Dadurch gelangen riesige Mengen der Treibhausgase Kohlenstoffdioxid (CO2), Methan (CH4) und Lachgas (N2O) in die Atmosphäre. Die Geschichte der Moore ist daher immer auch eine Geschichte des Klimas.“[6] In Zahlen: Moorlandschaften bedecken nur 4 Prozent der Fläche Deutschlands, davon sind etwa 95 Prozent entwässert. Allein diese entwässerten Gebiete sind für 7 Prozent der gesamtdeutschen Treibhausgasemissionen verantwortlich.
Das sind circa 53 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente – pro Jahr.

Ein Zwischenstopp in einem Unterwasserwald, mit Lichtreflexionen auf glasklaren Oberflächen und Vogelgesang hoch oben im Geäst. Den Blick in die Ferne gerichtet, doch ich sehe nur gelbe Punkte, diese verschwommen.
Wir zücken die Ferngläser, deren Handhabung will gelernt sein. Ich bin Anfängerin – und so flimmert der achtfach vergrößerte Bildausschnitt vor meinen Augen. Mir wird schwindelig, zunächst. Schon rufst du: „Kannst du sie erkennen, die Erlenzeisige?“, und dann erblicke auch ich sie, die kleinen Körper mit gelb-schwarzen Flügeln flattern.

Unser Pausenbrot verspeisen wir in Kützerhof. Eine verlassene Bushaltestelle, aus Stein gebaut, schenkt uns ihr Obdach. Vielen Dank! Sie freut sich über Gäste, denn für gewöhnlich ist sie allein. Nach kurzer Rast und frisch gestärkt, die Uhr zeigt 3 am Nachmittag. Weiter geht’s nun, geradewegs zum Kummerower See, links und rechts des neu gebauten Dammes – das Renaturierungsgebiet Große Rosin. Hier wurde das umgesetzt, was Fachleute großflächig fordern: die Wiedervernässung einst trockengelegter Landschaften. Denn dies geschieht bisher zu wenig, in Deutschland auf circa 2.000 Hektar pro Jahr. Doch „Berechnungen zeigen, dass hierzulande jedes Jahr mindestens 50.000 Hektar Moorfläche wiedervernässt werden müssten, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens nicht zu verfehlen […].“[7] Ein Kraftakt, bei dem überdies Fingerspitzengefühl gefragt ist. Denn jedes Moor ist in seiner ursprünglichen Beschaffenheit und seiner gegenwärtigen Beschädigung anders und es bedarf jeweils einer genauen Analyse dieser Begebenheiten, um kluge Handlungsanleitungen zu erarbeiten. Hier im Peenetal, eines der größten zusammenhängenden Niedermoorgebiete Mitteleuropas, genauer: am Eingang zu den gefluteten Polderwiesen gibt eine große Schautafel Auskunft über die einstigen Entwicklungsziele im Rahmen des Naturschutzgroßprojektes „Peenetal-/Peenehaffmoor“ (1992-2009).[8] Heute gelten 800 Hektar[9] als renaturiert, ein jahrelanger Prozess – hier, und dort und überall.

Der Moorbodenschutz gleicht einem Paradigmenwechsel, und damit zurück auf Los. Losgelöst von der Frage nach der Schuld früherer Generationen müssen wir heute Verantwortung für die Zukunft übernehmen – es ist ein Gebot der Gerechtigkeit[10]. Und es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der es die Expertise vieler Akteur:innen bedarf. Denn „technisch gesehen sind Wiedervernässungen leicht umzusetzen […]. Die soziale, kulturelle und besonders die wirtschaftliche Veränderung [zum Beispiel durch Bewirtschaftung mit Paludikultur und der Etablierung neuer Wertschöpfungsketten] ist umso komplexer. Für eine Moortransformation sind Umgestaltungen auf verschiedenen Ebenen zur gleichen Zeit notwendig.“[11]

Wir laufen weiter, auf unserem Weg beobachten wir eine Rabenparade und Silberreiher in Kolonie, schließlich einen Seeadler, der majestätisch am Himmel kreist, während der Tag sich gemächlich dem Ende neigt und in der Ankündigung der Dunkelheit beginnt es leise zu nieseln. Ein kurzer Blick nun auf den See, sodann der Weg zurück. Meine Beine sind müde, doch Erlösung naht. Die letzten Stunden allein auf weiter Flur, begegnet uns jetzt ein Paar, Hand-in-Hand spazierend. Kurzerhand bieten sie uns an, in ihr rotes Auto, vollgepackt mit Geschichten, einzusteigen. Schon 15 Minuten später sitzen wir in der Speisengaststätte bei Molli – Bauernfrühstück und Bier,
ich bin im siebten Himmel.

Ein letzter Gang durch das Moor, die Nacht ist dunkel wie nie zuvor. Wir erzählen uns schaurig-schöne Geschichten wie einst Arthur Canon Doyle. Kein Wildschwein begegnet uns, zum Glück. Die Jäger aus Dänemark haben sie erlegt, und jene, die überlebten, haben sich schlafen gelegt, vermissend ihre Schwestern, ihre Brüder – der Lauf des Lebens, Anthropozän. Nach weiteren 4 Kilometer sind wir zu Hause. Abendprogramm: Sauna und Stadt-Land-Fluss, dazu ein Glas Wein. Während es draußen nun unaufhörlich regnet und stürmt, knistert drinnen der Kamin.

Interesting!

Literatur- und Hörempfehlung:


_____

[1] Droste-Hülshoff, Annette von: Der Knabe im Moor. 1842, 1. Strophe.
Vergleiche hierzu: https://www.deutschelyrik.de/der-knabe-im-moor-14905.html, aufgerufen am 14.03.2023.

[2] Joosten, Hans: Trockene Moore – Erhitzte Erde!, in: Heinrich-Böll-Stiftung, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Michael Succow Stiftung, Partner im Greifswald Moor Centrum (Hg.): Mooratlas. Daten und Fakten zu nassen Klimaschützern. 2023 (1. Auflage), Seite 18.

[3] Gaudig, Greta/Tanneberger, Franziska: Ein ganz besonderer Boden, in: ebda. Seite 10.

[4] Bruisch, Katja: Der Mensch im Moor, in: ebda. Seite 20.

[5] Gaudig, Greta/Hirschler, Olivier: Ein Rohstoff aus dem Moor, in: ebda. Seite 26.

[6] Bruisch, Katja: Der Mensch im Moor, in: ebda. Seite 20.

[7] Peters, Jan/Hirschelmann, Sophie/Sommer, Pia: Guter Wille reicht nicht, in: ebda. Seite 40.

[8] „Der Pflege- und Entwicklungsplan für das Naturschutzgroßgebiet „Peenetal-Landschaft“ definiert für den Polder [= eingedeichte Fläche, die bei Bedarf geflutet werden kann] Große Rosin folgende Entwicklungsziele:
- Aufgabe des Polderbetriebes und Schaffung naturnaher Grundwasserverhältnisse
- Verschließen des Grabensystems
- Entwicklung von Großseggen-Rieden und teilweise Röhricht
- Entwicklung von Feuchtwiesen in Talrandbereichen durch extensive Mahd oder Beweidung
[…]
Eine Rückführung des hydrologischen Regimes des Moores im Bereich des Polders in seinen Ausgangszustand (Durchströmungsmoor) ist aufgrund der anthropogenen Beeinflussung (Torfzersetzung, Moorsackung, Verdichtung des Torfes, Freisetzung von Nährstoffen) kurz- bis mittelfristig nicht möglich. Über die Stufe eines Überflutungs- bzw. Verlandungsmoores sollen durch das Moorwachstum die Sackungsbeiträge minimiert und somit eine Erhöhung der Geländeoberfläche bewirken. Erst danach kann der Grundwassereinfluss zunehmen und zur weiteren Entwicklung eines Durchströmungsmoores beitragen.“

[9] Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern: Konzept zum Schutz und zur Nutzung der Moore. Fortschreibung des Konzeptes zur Bestandssicherung und zur Entwicklung der Moore in Mecklenburg-Vorpommern (Hg.). Schwerin: 2009, Seite 95.

[10] Vergleiche hierzu: Bajohr, Hannes: Der Klimawandel: Eine Ungerechtigkeit. Deutschlandfunk (Essay und Diskurs), 15.01.2023.

[11] Berghöfer, Uta/Hüpperling, Sabrina/Peters, Jan: Eine greifbare Möglichkeit, in: Mooratlas. Daten und Fakten zu nassen Klimaschützern (siehe oben), Seite 46.
Bei der Gestaltung dieser Transformationsprozesse spielt die Politik eine maßgebliche Rolle, sie muss. Denn die Herausforderungen der ökologischen Neuausrichtung sind von den Menschen vor Ort nicht allein zu meistern.
Es gilt, Anreize zu schaffen – nicht zuletzt monetär. Die Bundesregierung hat im Jahr 2022 eine nationale Moorschutzstrategie veröffentlicht, die in den nächsten Jahren im Rahmen des Aktionsprogrammes Natürlicher Klimaschutz (ANK) umgesetzt werden soll. Ein wichtiger Schritt, ein erster.
Vergleiche hierzu: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (Hg.): Nationale Moorschutzstrategie, 19.10.2022.

[12] Raupp. Judith: Demokratische Republik Kongo: Öl oder Bäume. Deutsche Welle, 15.03.2023.
Vergleiche hierzu: https://p.dw.com/p/4Of6z, aufgerufen am: 17.03.2023.