*ein Augenblick

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Sardinien – mitten im Mittelmeer


„Die Schönheit der Natur in ihrer stillen Kargheit, wie lange noch wird sie bleiben? Die Zerstörung des Ökosystems schreitet voran, menschengemacht. Lokal, global. Ein Grund ist einfach zu benennen: Der Wunsch nach Wohlstand. Und so disputieren die zwei Gesetzmäßigkeiten der Ökologie und Ökonomie miteinander, widerstreiten mit Waffengewalt. Doch einen Sieger wird es in diesem Kampf nicht geben, nur verlustreiche Schlachten. Das ist die Brisanz aller Tage.“ Ich setze den letzten Punkt. Ein kleiner schwarzer Kreis finalisiert die zweijährige Arbeit an meinem Buch. Punkt. Kurzerhand lasse ich den Stift fallen. Zwei Tage später wähle ich aus Zeitgründen die Umweltsau-Option und kaufe ein Flugticket, um mich erneut auf den Weg in die Welt zu machen. Der Inhalt meiner Sehnsucht: Sommer, Sonne, Strand und mehr, nicht weniger. Ihr Name: Sardinien. Bereits drei Tage danach düse ich über den Wolken gen Süden.

Hauptstadtbesuch, obligatorisch. Verwinkelte Gassen, baumlos, doch zivilgesellschaftlich mit Lavendel-Blumentöpfen geschmückt. Die Häuser tragen hübsche Fassaden, patiniert, an diesen Fensterläden, an diesen Balkone. Ich schlendere, spaziere, flaniere und plötzlich ein Orangenbaum. Zum Mittag frische Feigen vom Mercado San Benedetto, dazu eine Nektarine, saftig.

Gleich am nächsten Tag in aller Früh entfliehe ich dem städtischen Beton. Ich fahre mit dem 129er vorbei an rosaroten Flamingos, farbgekleckst vor blauem Hintergrund, und durch opulente Oleanderalleen in einer guten Stunde knatternd zur Costa del Sud. Hier verpasse ich, den Tourist:innenausstieg zu nehmen und kopfschüttelnd verneint der Busfahrer, mich auf offener Straße abzusetzen – welch’ ein Glück! Ein paar Minuten später: Endstation. Mit mir verlassen fünf Plastikspielzeugverkäufer den Bus. Kurzzeitig unverortet, verfolge ich sodann die fliegenden Händler unauffällig Richtung Dünen. Dahinter eine Bucht, nicht einsam, jedoch überwiegend einheimisch. Gern geselle ich mich zu euch. Zunächst aber lasse ich mich von einem sympathischen Baywatch-Rettungsschwimmer mit langem Haar und roter Badehose in die Wissenschaft der Sonnenschirmvermietung einführen, doch: Lehne Liege mit Schirm in erster Reihe für 70 Euro pro Tag erschrocken ab, lehne Liege mit Schirm in zweiter Reihe für 60 Euro pro Tag erschüttert ab, lehne Liege mit Schirm zum Selbstauftstellen für 25 Euro pro Tag entgeistert ab. Schließlich miete ich erleichtert einen grün-weiß gestreiften Sonnenschirm für einen Zehner, grabe ihn nach Anleitung eigenhändig in den heißen Sand und entfalte darunter mein blaues Handtuch, lächelnd. Die nächsten Stunden, nichts. Mein Blick gedankenverloren, gerade auf das Meer gerichtet, und über mir eine Drachenschnur fliegend, und hinter mir eine italienische Großfamilie schwatzend, homophon zum Meeresrauschen, und neben mir eine junge Frau „Die Glasglocke“ von Sylvia Plath lesend. Las auch ich, einst. Und immer wieder das Meer, dieses glasklare Blau in unendlichen Weiten. Unbeschreiblich schön. Und immer wieder, ich im Meer – toter Mann[1] auf offener See, wohliges Wanken zwischen den Wellen. Mein Körper schwerelos, mein Geist entrückt. Dazu ein Schauspiel: wie die Sonne ihr Licht in das Wasser legt, zeichnet feine Linien am Meeresboden. Ich verspüre den unbändigen Wunsch, dieses Kaleidoskop photographisch festzuhalten. Das letzte Bild, die Welle bricht.

Zurück in Cagliari erklimme ich die Marmorstufen des Bastione Sen Remy und genieße den Ausblick über der Stadt im Sonnenuntergangsambiente. Ein langsames Scheiden, und schließlich im Sekundentakt hinfort, 150 Millionen Kilometer entfernt, über alle Berge. Liebe Sonne, gute Nacht! Hitzegetränkte Tage, leicht abgekühlt deren Nächte. Doch das Thermometer misst weiterhin stolze 27 Grad. Mein Gesicht glüht rot, als ich auf einem Plastikstuhl am Straßenrand Platz nehme und meine erste Pizza Margherita esse, dazu ein ichnusa-Bier, non filtrata – auf deren Flaschenetikett: die sardische Flagge[2] mit quattro mori auf weißem Grund und rotem Sankt-Georg-Kreuz. Delizioso!

Westcoast. Obwohl ich mich über den ÖPNV auf Sardinien, der zweitgrößten Insel des Mittelmeeres, vorab informiert und ihn für hinreichend erachtet habe, schlägt mir das Internet jetzt eine Reiseroute in das 150 Kilometer entfernte, abgelegene Porto Alabe per Zug und Bus mit einer Fahrtzeit von 13 Stunden vor, hierin inkludiert mehrere Umstiege und endlose Wartezeiten. Alternativ, ein sechsstündiger Fußmarsch vom nächstgelegenen Bahnhof. Etwas ratlos sende ich ein SOS-Signal an meine zukünftige Unterkunft und bitte freundlich um Hilfe. Ein, zwei, drei Nachrichten später bin ich für den nächsten Tag zwölf Uhr mittags mit Edoardo am Bahnhof in Macomer verabredet. Wunderbar! Anschließend: 30 Minuten Autofahrt durch die Landschaft, schnörkellos und gelbgefärbt, ausnahmsweise mit graubedecktem Himmel. Ein Heuballen hier, dazu zwei Kühe, ein Esel, und am Horizont vereinzelt Eichen aus Kork[3]. 30 Minuten Autofahrt und ein erstes von vielen Gesprächen mit Edoardo, über Land und Leute, Natur und Kultur – über Schnee im sardischen Winter und Dürreperioden im Sommer, zeitgleich wird in Norditalien der Wassernotstand ausgerufen. 30 Minuten Autofahrt, währenddessen ich flüchtig darüber nachdenke, wie eine autoreduzierte Zukunft an Orten wie diesen gelingen soll. Eine kurzfristige Lösung für derartige Großstadtphantasien scheint in weiter Ferne und so vertage ich meine Gedanken zur Klimapolitik.

Konnotation eines Augenblicks. Noch gestern im Abendrot fühlte ich mich umzingelt von internationalen Turteltäubchen, diese glücklich grimassiert. Dazwischen ich, und ganz allein – nicht bedächtig, denn ich wurde beschuldigt, vergaß ich doch einen Partner mitzubringen. Für euch, verlorene Romantisierbarkeit. Und heute, ich und ganz allein, glückselig sitze ich am Meeresrand im Sand mit gelben, grauen, weißen Körnern und betrachte zum Sonnenuntergang ganzheitlich das Farbenspektrum der Natur: am Firmament ein Rosarot und zärtlich schleiern die Wolken, der Horizont in Königsblau gefärbt, davor das endlose Wasser eisblau schimmernd, und vor diesem Hintergrund geht gelb die Sonne unter. Liebe Sonne, gute Nacht!

Am nächsten Morgen, mein schönster Tag beginnt. Nach einem reichhaltigen, hausgemachten Frühstück, mit Espresso, frischgepresstem Orangensaft, Rührei, selbstgemachter Pflaumenmarmelade und dem typisch sardischen Pane carasau[4], laufe ich los, im Gepäck: eine eisgekühlte Wasserflasche, mein Schnorchelset und Wandertipps von Edoardo – immer der Küste entlang und bald, zwischen den Dünen, empor auf einen kleinen Hügel, mit bester Aussicht auf das türkisblaue Meer und versteckte Unterwasserfelsen. Weiter geht’s durch Buschgestrüpp, nicht höher als ein Meter – die Sonne brennt mittlerweile unerbittlich – und keinerlei Schattenspende ist in Sicht, doch hübsch verziert der Wegesrand mit grazilen Amaryllisgewächsen in Weiß, a.k.a. Strandlilien. Mein Ziel rückt näher mit jedem Schritt: der Wach- und Wehrturm Torre de sa Columbargia[5], majestätisch thronend auf einem Felsvorsprung und dahinter verborgen eine Parallelwelt, in die ich schnorchelnd hineingleite. Schon begegne ich dem ersten Fischschwarm, fünf silbrig-glänzende Gestalten mit einem schwarzen Rückenstreifen. Nur einer trägt abweichend, statt schwarzem Strich, einen gleichfarbigen Punkt auf seiner Flosse. Sanft nicke ich ihnen zu und schwimme behutsam vorbei. Und siehe da, ein Nachzögling beeilt sich nun, den Anschluss nicht zu verpassen und ist wiederrum eine phänotypische Variation, trägt als Zebra verkleidet längs seine Streifen. Weiter folge ich dem Ruf der Fische, beobachte aus nächster Ferne ihre schlängelnden Bewegungen, vorsichtig schlängle auch ich, mich durch die Durchsichtigkeit an ihnen vorbei und plötzlich sehe ich dich, du Schönling, allein auf weiter Flur mit grünem Schuppenkleid und rot-blauem Kragen, dazu ein schwarzer Strich entlang der Rückenpartie. Für welche Feier hast du dich zurecht gemacht? Ein Tanz im Mittelmeer, sonnenhell erleuchtet der Untergrund und über uns die Wasserdecke wabernd, mit tänzelndem Seegras, kopfüber dekoriert.

Am Abend dann der Höhepunkt. Die hauseigene Pizzeria // Hier: Neapolitanische Art, immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe, aufwendig und vollumfänglich handgemacht. Gestern: Erneut Pizza Margherita – erwischt, liebe ich – und mit prall gefülltem Bauch schwebe ich im Basilikum-Mozzarella-Tomaten-Himmel. // hat montags regulär geschlossen, deshalb fragt Edoardo mich, ob ich mit ihm und seiner Freundin Valentina sowie Antonio und Guiseppe essen gehen will. Begeistert sage ich zu. Gemeinsam fahren wir nun nach Bosa, ein hübsches Kleinstädtchen mit bunt bemalten Häusern und verkehrsberuhigtem Gassenlabyrinth, und lassen den Abend gesellig ausklingen: fröhlich schwatzend in bilingualem Sprachengewirr. Auf Empfehlung esse ich eine Auster, das erste Mal, und konstatiere lobend deren Konsistenz weniger eklig als erwartet, und ihr Geschmack – erinnert an jene Unendlichkeit des Meeres. Zum Abschied bedankt ihr euch für meine Gesellschaft, ich lächle tausendmal zurück.

Eastcoast. Olbia mit Abflughafen, zwei Tage zu lang hier. Mein Reiseführer überrascht in seiner Radikalität, der dem Ort nichts Sehenswertes, außer einer Basilika aus dem 12. Jahrhundert, bescheinigt. Im hiesigen Hotelzimmer werde ich von einer zeitlosen Person weiblichen Geschlechts begrüßt. Ihr Anorak ist rosafarben und mit blaugefärbter Skibrille schaut sie mich an, und schaut mich nicht an – statisch das Bild, der Hund in ihren Armen trägt eine schwarz-weiße Frisur. Zuvor, die Verabschiedung von Valentina und Edoardo war tränenreich, traurig bleibe ich zurück und dennoch bewege ich mich fort, immer weiter, und jetzt hinaus aus der Vibration der Tourist:innenströme[6]. Abermals mit einem Zugticket von Trenitalia // Anerkennend betone ich: fünf Zugfahrten, keine Minute Verspätung. Edoardo würde sagen, dies sei eine Meldung in der hiesigen Zeitung wert, womöglich mit Abbildung einer stolzen Zugführerin auf Seite eins. Doch das Titelblatt ist gegenwärtig besetzt – Corona wütet weiter: „Il Covid ruggisce ancora: boom die contagi” (2. Juli 2022). // in der Hand, mache ich mich auf den Weg Richtung Küste – zur Unterwasserfischewelt.

Sommer, Sonne, Strand – mehr habe ich nicht gesucht, doch so viel gefunden. Sardinien ist unbedingt eine plus x Reise(n) wert. Lasst mich hierzu abschließend noch zwei Gedanken mit euch teilen: Erstens, nehmt ein Auto (mit) und zweitens, nehmt euch Zeit, viel mehr als eine Woche. Und nun – Arrivederci, Sardegna!

 

Interesting!

Safran, eines der teuersten Gewürze der Welt, wird aus den drei roten Stempelfäden einer Krokus-Pflanze, dem crocus sativus, gewonnen. Zur violetten Blütezeit, im Oktober eines Jahres, ernten fleißige Hände mühsam die drei Zentimeter langen Narben und erhalten mit viel Geschick fünf bis sechs Gramm des roten Goldes – pro Stunde. Marktwert: „Je nach Qualität kostet Safran heute bis zu 15 Euro pro Gramm, knapp die Hälfte des Goldpreises.“
60 Prozent der italienischen Safran-Produktion stammen aus Sardinien und „der Safran von San Gavino gilt als der beste Italiens“.
Stieglitz, Andreas: Sardinien. Ostfildern: DuMont Reiseverlag 2019 (2. Auflage), Seite 36 – 38.

 

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[1] Es gibt tatsächlich einen Wikipedia-Eintrag zu diesem Vergnügen. Sehr interessant.

[2] Die Flagge Sardiniens zeigt die Köpfe vier maurischer Könige, die „im Jahre 1096 in der Schlacht von Alcoraz von
König Peter I. von Aragón besiegt und enthauptet wurden“. Seit Ende des 13. Jahrhunderts unter aragonischer Herrschaft nutzten die Sarden diese Symbolik zur Abschreckung sarazenischer Piraten, die „die Küsten mordend und plündernd überfielen und die Einwohner in die Sklaverei verschleppten“.
Vergleiche hierzu: https://www.flaggenlexikon.de/fsardin.htm, aufgerufen am 02.09.2022.

[3] Die Rinde der Quercus suber kann etwa alle zehn Jahre abgeschält und zur Korkgewinnung genutzt werden. „Mehr als 
15 Milliarden Korkstoppeln werden jährlich zur Versorgung des internationalen Weinmarktes produziert. Dies entspricht
ca. 80 Prozent der Korkernte. Andere Korkprodukte, wie Fliesen, Dämmstoffe, und Produkte für industrielle Anwendungen, werden fast zur Gänze aus Recyclingmaterial der Korkstoppelproduktion gewonnen.“ Doch mit dem Umstieg auf Plastik- und Drehverschlüsse als Alternative sind die Korkwälder in Gefahr, weil sie ihren ökonomischen Nutzen verlieren. Als Lebensraum vieler Pflanzen- und Tierarten ist infolgedessen die Biodiversität unseres Planeten ebenfalls und abermals gefährdet.
Vergleiche hierzu: https://wwf.panda.org/wwf_news/?4802/2/Flaschen-bitte-nur-mit-Kork, aufgerufen am 03.09.2022.

[4] Ein hauchdünnes, knuspriges Fladenbrot hergestellt aus Hartweizengrieß, Hefe, Wasser und Salz. 

[5] Zahlreiche solcher Türme wurden im Mittelalter an den Küsten Sardiniens erbaut, um sich gegen die Piraterie der Sarazenen zu wehren.

[6] Etwa drei Millionen Menschen besuchen Sardinien jährlich, die Bevölkerungszahl beträgt ca. anderthalb Millionen.