*ein Augenblick

View Original

Armenien – ganz nah am Himmel


Rückblick. Montag, 20. Mai.

Wie einfach man eine Grenze überschreiten kann. Austrittsstempel Georgien, Eintrittsstempel Armenien. Das Privileg eines deutschen Reisepasses. Einen Augenblick, oder drei Stunden, später bin ich in Yerevan, der Hauptstadt Armeniens angekommen. Armenien ist ein kleines Land: 3 Millionen Einwohner:innen bei einer Größe vergleichbar mit Brandenburg. Doch das Volk der Armenier:innen lebt vor allem diasporisch. Man sagt, dass nur etwa 30 Prozent in Armenien leben, weitere 70 Prozent der Menschen mit armenischen Wurzeln auf der ganzen Welt, so zum Beispiel auch die Mitglieder der Band System of a Down.

Was sind meine Erwartungen an Armenien? Ich glaube, ich habe keine. Nur rudimentäres Wissen. Armenien, das erste Land, dass das Christentum als Staatsreligion eingeführt hat; der Genozid an den Armenier:n:innen in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Und vor vielen Jahren habe ich einmal das Hörbuch zum Roman Choral des Todes von Jean-Christophe Grangé gehört: Ich erinnere eine düstere Stimmung, ein Mord im Umfeld der armenisch-orthodoxen Kirche. Schließlich der Wunsch, das Land kennenzulernen, der mich hierher gebracht hat.

Yerevan: Der postsowjetische Lebensstil erschlägt mich. Monumentale Prachtbauten und -straßen. Stark geschminkte Frauen verkörpern ein für mich unmodernes Bild, rote Münder größer als Lippen. Überall werde ich auf Russisch angesprochen. Wie konnte ich so naiv sein, ohne jegliche Russischkenntnisse hierherzukommen? Egal, ich will ja Armenien kennenlernen. Und so mache ich mich auf die Spuren der Geschichte und Kultur des Landes, klaube mir armenische Wortfetzen auf einen rosa Post-it zusammen, die ich dann bei Gelegenheit lesend stammele. Ich glaube, ich kann schon jetzt festhalten, dass sich Menschen jeder Nation freuen, wenn man bemüht ist, die jeweilige Sprache zu sprechen. Ein շնորհակալություն / shnorhakalut 'yun (=Danke) sollte also als ein Leichtes über die Lippen gehen.

Auf meinem Weg durch die Geschichte des Landes erfahre ich, dass Armenien

  • ein sehr altes Land ist. Die Hauptstadt ist 2800 Jahre alt, und damit eine der ältesten Städte der Welt.

  • bereits im Jahr 301 das Christentum als Staatsreligion eingeführt hat. Kurz darauf wurde die erste Kirche eines Staates in Etschmiadzin – 20 km von Yerevan entfernt – errichtet.

  • noch immer einen schrecklichen Genozid an dessen Bevölkerung zu verkraften hat, und auch Deutschland keine unbedeutende Rolle bei diesen Gräueltaten spielte.

  • – wie Georgien – stets von verschiedenen Großmächten, den Persern, den Mongolen, den Russen, dem Osmanischen Reich erobert worden ist.

  • sich dennoch eine eigene Schriftsprache, die christliche Religion – eine charakteristische Kultur – erhalten hat.

  • genau aus diesem Grund, stolz auf die eigene Identität ist.

Zizernakaberd - die Gedenkstätte des Genozids an den Armenier:innen

Interessant ist zudem, dass hoch über der Stadt Yerevan ebenfalls eine Mutter des Landes thront. Doch diese Mutter trägt – im Unterschied zur Mutter Georgiens – keine Schale der Gastfreundschaft in der Hand, sondern nur das Schwert. Dieses Symbol ist ziemlich bezeichnend, so wirken anfänglich „die“ Armenier:innen auf mich ebenfalls eher verschlossen, und weniger einladend.

Die Mutter des Landes, hoch über Yerevan

– Szenenwechsel –

Kapan, Südarmenien. Freitagnachmittag.

Es hat ein Gewitter gegeben, und Starkregen. Naira und ich mussten unsere Arbeit abbrechen, nun sitze ich im Garten. Die Sonne scheint wieder. Der Ausblick ist herrlich. Berge überall. Und so viel grün. Schmetterlinge fliegen umher, es gibt sehr viele Schmetterlinge in Armenien. Und, so habe ich heute erfahren, auch Wölfe und Bären und Schakale. Schlangen habe ich selbst schon gesehen. Fünf Tage bin ich nun hier. Am Anfang war ich – zugegebenermaßen – stark überfordert. Als Großstadtkind musste ich mich nun allein auf dem Land zurechtfinden. Doch was heißt Land? Ich wohne in einem Garten nahe der Stadt Kapan: Ich schlafe in einem kleinen Lehmhaus, es gibt eine Außenküche; Toilette und Dusche befinden sich ebenfalls draußen, kein Internet.

Es ist wunderschön hier, das habe ich sofort gesehen. Doch zunächst war ich ängstlich, vor dem Alleinsein, den Tieren und der Dunkelheit. Ich habe mich gefühlt, wie die Protagonistin im Roman Die Wand. Ein wunderbares Buch. Eine Frau wacht eines morgens in einem Haus in den Bergen auf. Eine unsichtbare Wand ist erstanden, hinter der es kein Leben mehr gibt. Sie ist allein und doch nicht allein, ein Hund und eine Kuh sind ihre Begleiter. Es ist beklemmend und wunderbar, diese Frau in ihrem Überlebenskampf zu begleiten. Die Ödnis der immer gleichen Tage; die Stärke, die sie beweist, da sie sich neue Eigenschaften, zum Beispiel die der Selbstversorgung, aneignet; die absolute Fokussierung auf Struktur, um nicht verrückt zu werden – vielleicht auch in der Hoffnung gerettet zu werden. Doch von wem, und wohin?

Ich hänge meinen Gedanken nach, auch tagsüber wenn ich den Müll anderer Feste aus dem Boden harke und in dutzende Müllbeutel einsammle. Jeden Tag fahren Naira und ich zu einer Stelle, die sich nahe eines Picknickplatzes im Wald befindet. Es ist soviel Müll, mehr als ich mir je hätte vorstellen können, vor allem Plastiktüten, Flaschen und zerbrochene Flaschen, Einweggeschirr, Süßigkeitenpapier – eine Snickers-Verpackung, zu verbrauchen bis Oktober 2014 – und, und, und. Wir sammeln und sammeln und sammeln. Wozu? In diesem Bereich soll ein öffentlicher Park entstehen, mit angelegten Wegen, Informationstafeln, Mülleimern. Armens – mein Host – Gedanke dahinter: Die Menschen sollen das Gebiet als Naherholungszentrum nutzen können, doch mit einem Bewusstsein für die Umwelt und die zukünftigen Generationen weniger Müll hinterlassen. Dies ist nur eines von vielen Projekten seiner NGO-Arbeit. Alle stehen unter dem Vorhaben den Eco-Tourismus in der Region aufzubauen.

Nach zehn Tagen bin ich glücklich: hier gewesen zu sein. Ich habe viel gelernt über Umwelt und zivilgesellschaftliche Bemühungen, diese zu schützen; über Stärke und Ehrgeiz; über Hilfsbereitschaft und Freundschaft.

Ich bin dankbar: Naira und Armen kennengelernt zu haben. Über die intensiven Gespräche – physisch mit Händen und Füßen (Naira) und psychologisch über mein Leben, meine Zukunft, meine Träume (Armen).

Interesting!
Die Nationalfrucht der Armenier ist die Aprikose. In der Flagge des Landes ist die unterste Farbe (Aprikosen-)Orange, die einen fruchtbaren Boden symbolisieren soll.