*ein Augenblick

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Chile – 32 Stunden Busfahrt, durchgängig


So ist es: So ist es immer gewesen: beim Reisen. Die Freiheit zu haben, Pläne zu schmieden, Pläne zu ändern, zu verweilen, umzudenken, kurzerhand Entscheidungen zu treffen. Ich nehme mir die Freiheit, bleibe drei Wochen in Cusco, Peru und reise erst 62 Stunden vor dem Abflug nach Europa in Chile ein. Und obwohl es der kürzeste Aufenthalt in einem Land ist – abgesehen von Japan und Kanada, hier nur Flughafenaufenthalte –, so erlebe ich doch eine intensive Zeit auf der letzten Station meiner Reise.

32 Stunden Busfahrt. Es ist Freitagmorgen 11 Uhr, als ich in den Bus steige, in dem ich bis Samstagabend 19 Uhr sitzen werde. Durchgängig. Ich werde 2.000 Kilometer zurücklegen, vom Grenzort Arica im Norden bis nach Santiago, der Hauptstadt Chiles –  immer an der Küste // → Pazifischer Ozean // entlang. In den letzten Monaten habe ich bereits etliche Stunden in Überlandbussen verbracht, durch die Nacht und durch den Tag. Dies wird aber mit Abstand die längste Reise sein, zumal ich von Cusco bis zur Grenze Peru-Chile bereits 17 Stunden gefahren bin. Doch hinfort ihr respektvollen, rückenschmerzenden Gedanken. Nein, ich erfreue mich lieber an anderen Gedanken, jenen, die mit Hoffnung geschmückt: Nach intensiven drei letzten Wochen habe ich Zeit für mich. Ich habe Zeit, diese Zeit – Was ist Zeit? – Revue passieren zu lassen. Doch nicht nur ein Gedanke, sondern tausend Erinnerungen an die vergangenen elf Monate, an meine Reise wollen auf dieser letzten Fahrt bewältigt werden. Der Motor startet, es geht los.

Und so ist es: Ich denke nach, anderthalb Tage. Ich schaue aus dem Fenster, immer nach Westen, Richtung Küste, anderthalb Tage. Ich höre Musik, unablässig // → Da ich auf meinem Mobiltelefon fast keinen Speicherplatz habe, musste ich meine Musikauswahl auf zwei DJ-Sets beschränken: Paul Zehner @Nation of Gondwana 2017 und Marcus Worgull @Nation of Gondwana 2015. Letzteres ab Minute 103 wunderbar zum Träumen in die Weite //, anderthalb Tage. Ich schreibe Tagebuch, anderthalb Tage. Falls sich jemand fragt: Nein, ich lese nicht. Warum? Weil ich nicht abgelenkt werden will in meinem Sein. Und weil ich nur Christian Jacqs Ramses –  The Son of Light // → Gekauft in Quito, Ecuador // dabei habe. Vielleicht wird die eine oder der andere Fragende verstehen, dass weder mein Gehirn noch mein Herz in dieser Situation offen für ägyptische Könige ist. Ein Augenblick: Elf Monate. So viele Menschen habe ich getroffen, so viel erlebt, so viele Wunder gesehen, so viel gefühlt. Mein Rucksack und ich, und Gundi. Wir haben uns durchgeschlagen, durch alle Wetter, durch viele Naturen und ebensolche Kulturen – immer mit Ziel, doch oft ohne Plan. Und bis auf den zweifachen Rückschlag=Klaumoment bin ich frei wie ein Vogel durch die Welt gewandelt.

Die Welt ist schön / Ich bin glücklich / Mein Herz ist offen / Es tut so weh.

Resümee danach.

Neben diesen gedankenversunkenen Stunden erlebe ich auch Chile: ein knopflochgroßes Panorama. Gleich zu Beginn stelle ich fest, dass das chilenische Spanisch einen ganz besonderen Schlag hat. Einen, den ich nicht verstehe. Einen, in dem ich nicht kommunizieren kann. Zumindest ist das das vorläufige Resultat aus der ersten längeren Begegnung mit dem Busbegleiter. Im stillen gegenseitigen Einverständnis ignorieren wir uns ab Stunde zwei. Später, zum Beispiel im Gespräch mit dem Taxifahrer auf dem Weg vom Busbahnhof zum Hostel, erkenne ich die lautmalerischen Feinheiten und gewöhne mich an den Singsang. Weiter: In (Nord-)Chile ist es sehr warm, kein Regen. Weiter: Die Straßen, die durch kleine Städte führen, sind sehr häufig mit Oleander gesäumt. Schön. Weiter: Die Städte sehen anders aus. Moderne Wohnblöcke prägen das Bild. Ich kann meinen Eindruck nicht recht fassen. Ist es europäisch, oder eine neue Welt? In jedem Fall, das Antlitz unterscheidet sich von meinen bisherigen Beobachtungen in Südamerika. Weiter: Und die Busfahrt? Ich bin heilfroh, dass ich während der gesamten Zeit einer Zweier-Sitz für mich allein beanspruchen kann. So erweitert sich die Enge und wird erträglich. / Ich lerne einen jungen Mann ohne Namen kennen, der so freundlich ist, mir einen Internet-Hotspot von seinem Handy zu geben. Ich darf ihn behalten bis er aussteigt, in der Wüste keinen Empfang. / Nicht ganz klar ist mir das Konzept der Busfahrt. Tatsächlich machen wir keine einzige Pause. Wir halten, ja, an zahlreichen Busbahnhöfen um Leute auszuspucken und andere aufzunehmen. Es ist ein reges Treiben, doch ist mir in diesem Gewirr nie ganz klar, wie lange ein solcher Halt dauern wird. Nachteil nun: Nichtkommunikation mit dem Busbegleiter // → siehe oben //.

Die letzte Nacht. Unabhängig von der Gefühlsduselei und unabhängig davon, dass alles gar nicht so schlimm, sogar: besser als erwartet, gewesen ist. Es war einfach verdammt anstrengend. Als ich in Santiago ankomme, bin ich so hungrig, müde, ausgezehrt. Ich will eine Zigarette rauchen, ich will duschen, und, abgesehen von allen körperlichen Missständen, ich will einen schönen letzten Abend haben. Der Busbahnhof, der direkt in ein Einkaufszentrum mündet (Samstagabend!) überfordert mich, ich springe in ein Taxi, und ab zum Hostel. Eingecheckt, Zigarette gedreht, und direkt einen anderen Reisenden – Andi, aus der Schweiz – angesprochen. Ob, er sich auskenne? Wo man denn hingehen könne? Ich berichte von meiner Situation, letzter Abend und so. Er will auch noch ausgehen. Wunderbar! Ich gehe nur noch schnell duschen, dann können wir los. Ein paar Stunden später machen wir uns dann wirklich auf den Weg ins Nachtleben von Santiago. Es wird ein wunderbarer letzter Abend werden, der beste, den ich mir hätte erträumen können. Ich trinke meinen letzten Pisco Sour, wir gehen in eine Karaoke Bar, in der die Feiernden auf den Tischen tanzen, später in einen Club mit elektronischer und lateinamerikanischer Tanzmusik. Auf den Straßen überall Menschen, überall Musik, die Stadt eine einzige losgelöste Party. Wir verstehen uns großartig. Wir unterhalten uns über das Reisen, über Aufbruchs- und Rückkehrpläne, über Schweizer Literatur, hier: mein Lieblingsschriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Andi, der schon länger in Santiago ist, erzählt mir, dass die Demonstrationen in Chile weiter andauern – Ich denke, wie überall die Welt sich bewegt, ohne dass wir Kenntnis davon nehmen –, das Volk hat noch nicht gewonnen, der Kampf ist noch nicht beendet. Viva Chile! Auf dem Rückweg zum Hostel beobachten wir vier Handyklau-Momente. Dieses Mal bin ich nicht dabei, dieses Mal habe ich Glück gehabt. Denn darum geht es doch, oder, um Glück und Unglück?

Ausgehen in Santiago

Der letzte Tag. Sonntag, Sonnenschein, Ausflug. Nach einer zu kurzen Nacht kann ich mich dennoch motivieren, ein wenig Santiago zu erkunden. Eine letzte Wanderung, eine letzte Aussichtsplattform hoch oben auf dem Cerro San Christóbal // → Der Hügel im Stadtteil Bellavista prägt das Stadtbild //, mit 22m hoher Marienstatue und wunderschöner Aussicht auf Santiago. Ich kaufe letzte Souvenirs, unter anderem den noch fehlenden Landessticker für meinen Laptop, den ich plötzlich vom freundlichen alten Souvenirverkäufer mit einem Lächeln geschenkt bekomme. Muchas gracias, Señor. Und wieder: Ich will nicht Abschied nehmen, und doch muss ich.

Auf Wiedersehen!

Sonntagabend, 21 Uhr. Ich nehme ein letztes Mal ein Taxi, zum Flughafen. Drei Stunden später werde ich Chile verlassen. Südamerika. Und zurück in eine Welt, die früher einmal mein Zuhause gewesen ist. Jetzt ist sie Corona, doch davon weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Noch bin ich frei. In diesen letzten Stunden. Ich habe von Chile nicht viel gesehen, und doch ist das Land für mich ein ebenbürtiges Puzzleteil auf der Weltkarte meiner Reise. Es war nicht weniger emotional, nicht weniger aufregend, nicht weniger interessant. Reisen ist, was wir daraus machen, ebenso das Leben.

 

Interesting!

Einige interessante Fakten über Chile, gesammelt im Wiki: Nach Kanada ist Chile das Land mit der niedrigsten Mordrate in Amerika. / Chile hat aufgrund der globalen Erwärmung seit den 90er-Jahren 37% seiner Wasserressourcen verloren. / Die Nord-Süd-Ausdehnung Chiles (4275m) verläuft über 39 Breitengrade. / Der höchste Berg Chiles der Ojos del Salado (6.893 m) ist gleichzeitig der höchste Vulkan der Welt. / In Chile wohnen ca. 20 Millionen Menschen, ein Viertel davon in der Hauptstadt Santiago. / Chile verfügt über die größten bekannten Kupfervorkommen der Welt (40%). / Der chilenische Dichter Pablo Neruda erhielt 1971 den Literaturnobelpreis. Die bekannteste zeitgenössische Schriftstellerin ist Isabel Allende. / 1962 fand die Fußball-Weltmeisterschaft in Chile statt. Das Land belegte seine beste Platzierung, den dritten Platz.