*ein Augenblick

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Ein Monat: unterwegs: ein Monat in Georgien</a>


Wie bedeutungsschwanger sich solch ein Rückblick aufbäumt! Alle Gedanken, die ich in den letzten Wochen gedacht; alle Eindrücke, die ich gesammelt habe; ja, alle Befindlichkeiten – dies alles muss gefiltert werden; durch welchen Filter? – dies alles muss systematisiert werden; doch mit welchen Kategorien? Ich nehme mir vor, ein Bild zu entwerfen und besitze doch nicht das richtige Werkzeug. Ein Rückblick kann nur scheitern, so denke ich, und es geht mir nicht darum: um eine Analyse der Welt – sondern vielmehr um einen Augenblick, im Laufe der Zeit.
Wo könnte man diesen Augenblick besser festhalten als direkt vor Ort?
Dadaena Park, Tbilisi, Georgien: Freitag, 14 Uhr.

გამარჯობა – Gamardschoba.

Vor einem Monat bin ich nach Georgien gekommen. In Kutaisi, Imeretien, der Heimat Medeas – Welch ein wunderbar unverhofftes Wiedersehen! – gelandet, in den Süden nach Achalziche, Samzche-Dschawachetien, weitergefahren, habe Batumi am Schwarzen Meer / → Adschurien / besucht, bevor ich mich auf den Weg nach Osten, nach Tbilisi, in die Hauptstadt gemacht habe. Meine Erwartungen waren hoch an diese Stadt, ein Ost-Berlin der 1990er Jahre. Genauso ist es. Nur, dass ich jetzt groß bin, und verliebt: in die Dynamik des Aufbruchs. Verliebt in die vielen Cafés und Bars, die man ohne Mühe, oder ohne das Glück zu haben, Menschen zu kennen, die sich auskennen, nicht findet. Verliebt in die kleinen Galerien, in die Mode, in das Dokumentarfilm-Festival CinéDOC-Tbilisi; ich bin verliebt in diejenigen, die sich treffen, um gemeinsam zu photographieren, Ausflüge zu machen, Müll zu sammeln.

Meine Reisebegleitung: Gundi

Doch das ist nur ein Blick, daneben das Traditionelle: alte Frauen mit Kopftüchern, die am Straßenrand Brot, Käse, Gurken und Tschurtschchela / → eine Süßspeise, bei der aufgefädelte Nüsse mit einem Traubensirup überzogen werden / verkaufen. Eine Architektur, die vielgestaltig Zeugnis über die wechselnden Herrschaften / → z.B. durch die Perser, Türken, Mongolen, Russen / ablegt. Eine orthodoxe Kirche, / → Georgien ist neben Armenien und Äthiopien eine der ersten Christenheiten der Welt und stolze Bewahrerin dieses Erbes / deren traditioneller Einfluss so mächtig ist, und die hier ebenso Identität stiftet, wie die eigene Schriftsprache und die georgische Kulinarik.

Ein Monat Georgien: Georgien ist für mich.

Finden der richtigen (!) und Fahren mit dieser Marshrutka / → Minibus / durch das ganze Land; Duschen ohne Duschvorhang; Khachapuri / → Teig und Käse, lecker! / zum Mitnehmen; neu vergebene Straßen- oder Ortsnamen, die niemand benutzt; das Stalin-Museum in Gori; Wandern im Kaukasus; es ist die Mutter Georgiens, die hoch über Tbilisi thront, in einer Hand ein Schwert, in der anderen eine Schale als Zeichen für die Gastfreundschaft haltend.

Mit Blick auf Tbilisi: die Mutter Georgiens

Es ist die Lebenskunst. Dass immer – irgendwie – ein Auto an dem anderen vorbeikommt; die Erkenntnis, dass kein:e Autofahrer:in etwas davon hätte, mich zu überfahren und die Chuzpe, mit dieser Erkenntnis die Straße zu überqueren.

Es ist die Gastfreundschaft. Der Wein / → Georgien hat eine mehr als 8000-jährige Weintradition / als Gastgeschenk, der geteilte Kuchen im Bus. Keti, meine erste Gastmutter und langfristige Ansprechpartnerin, die mir soviel über ihre Heimat erzählt hat, die stolz ist und kritisch. Ganz besonders: unser gemeinsamer Besuch der einstigen Hauptstadt / → Mzcheta /.
მადლობა – Madloba, Keti.

Auch wenn ich in den höchsten Tönen schwärme, ist natürlich gleichzeitig ein kritischer Blick gefragt. Auf: ein starkes Patriarchat, Armut, Homophobie, Stromausfälle, Polizeigewalt. Auch das ist Georgien. Und auch das bleibt nicht ohne Widerstand.

Ich bin dankbar für die vielen aufschlussreichen Gespräche, die ich führen durfte, über Politik und Religion, über die Zugehörig- und Einzigartigkeit Georgiens.

Interesting!
In Dmanissi, im Süden Georgiens, wurden in den 1990er Jahren Skelettteile von vor 1,75 Millionen Jahren entdeckt; später (2001) dann sogar der Schädel eines 1,8 Millionen Jahren alten Frühmenschen. Dies ist das bisher älteste Zeugnis außerhalb Afrikas. Hierzu absolut sehenswert die modern aufbereitete Ausstellung Stone Age Georgia, auch in englischer Sprache, im Georgischen Nationalmuseum.