Sächsische Schweiz: Zwischen Felsen


Tag 1, linkselbseitig

Es ist neun Uhr als ich an einem zufälligen Montagmorgen von Bad Schandau mit der Fähre zur Bahn und mit der Bahn in vier Minuten nach Königstein fahre. Anpfiff, und frühstückgestärkt laufe ich los. Doch einen Augenblick. Ich bin verwirrt, irre durch die kleine Ortschaft, neben mir der Autoverkehr. Wo ist der Eingang zur Natur? Ich kann ihn nicht finden. Verpasse eine Abbiegung nach links, kehre um, kehre ein – nehme einen kleinen Weg bergauf vorbei an Einfamilienhäusern und rechts ein Bächlein, plätschernd. Ein paar Minuten später am Horizont der Wald sich zeigt, ein paar Minuten später ein Schild auf den Malerweg[1] hinweist.

Schon schlendere ich auf einsamen Pfaden, schlüpfe durch Birken- und Buchenstämme, noch kahl ist das Blätterwerk Anfang März. Schon türmen sich am Quirl, nordseitlich des Tafelberges, vielzählig die Steine, aus Sand gemacht, in wilden Formationen – ein Fenster hier, ein Ausblick dort. Und eiszapflich ein letzter Gruß vom Winter. Der nächste Streich, der Pfaffenstein und dessen Aussicht wunderschön zwischen Felswänden in Richtung Lilienstein. Ich atme ein.

Pause mit Brot. Weit entfernt die Kirchenglocken läuten nun zur Mittagszeit. Ich bin allein und halte schweigend inne. Kein Wanderer kreuzt meinen Weg, zudem ein Unbehagen meine Gedanken, diffus geraten sie ins Wanken – zum Abschied sagtest du Lebewohl. Kurz nachgedacht, und dann vertagt, denn Hier und Jetzt und ganz banal, ich wünschte: der winterliche Wind würde scheiden, die Wolkendecke weichen, durch diese die Sonne kraftlos lugt. Mein Kopf versehen mit Gänsehaut.

Bewegung hilft, und über Stock und über Stein schlage ich den Weg zum Gohrisch ein. Erneut ein Tafelberg, einzigartig in Europa imponieren diese solitär. Zudem: „Nirgendwo auf der Welt stehen mehr Exemplare dieser kuriosen Landschaftsform so dicht und so zahlreich wie hier [Elbsandsteingebirge].“[2] Der Aufstieg auf knapp 450 m erfolgt über Metallstufen und Holztritte – steil, mitunter rutschig auf gefallenem Laub erklimme ich das Felsengeflecht. Gemeinhin ein beliebtes Ausflugsziel und jede Himmelsrichtung birgt ein ausgezeichnetes Photomotiv. Aber wo ist deines, das ich suche? Einen wahrhaft atemberaubenden Ausblick über hunderte Baumkronen, grüngetupft im morgendlichen Sonnenschein und Landschaftslinien schlingern sanft gen Horizont, in der Ferne ein Nebelschweif – hast du mir gezeigt. Ich kann ihn nicht finden, laufe weiter und unvermittelt werde ich eines Felsplateaus gewahr, ahne das Ziel meiner Suche, jedoch scheinbar unüberwindbar: der Abgrund einer Schlucht.

„Oha!“, denke ich pulserhöht als ich in den Abgrund blicke. Zwischen Felsen führt er metertief hinab, einzig nur ein Geröllgrab und in der Dunkelheit kein Tageslicht. Allerdings, die andere Seite ist verheißend nah, es allein eines klitzekleinen Sprungs bedarf. Es ist nicht weit, aber weiter als ein Schritt, zumal der Fels gegenüber 30°-winkelig ist. Ich brauche Schwung und darf nicht rutschen, nicht fallen in die Finsternis, denn gewiss, mein Wehgeschrei würde unerhört verhallen. Schon schlackern meine Knie. Ich kehre um, das ist es nicht wert. Ich kehre um, zurück zur Schlucht, ich würde es bereuen. Jetzt kurbelt mein Gehirn, ich konstatiere noch einmal und denke diffus über die Schwerkraft nach. Nicht wissenschaftlich, eher gefühlt und möglichen Körperverrenkungen nachgespürt. Das Fazit ist klar: Erstens, ich muss springen – und zweitens, der Sprung ist schaffbar. Schon schlottern meine Knie. Und leise lacht der Abgrund, und bibbernd meine Angst. Noch zögere ich, mein Monodrama verlängert sich, ich flehe mutlos den Himmel an. Allein als Antwort erhalte ich vereinzelte Schneeflocken, wirbelnd, und gleichzeitig, frohlockend, zeigt die Sonne schüchtern ihr Gesicht. Der Ausgang scheint weiterhin ungewiss. Unzählige Minuten verstreichen nun, doch plötzlich, gänzlich unverhofft, der Höhepunkt: Aus einer anderen Welt vermeintlich ein Requiem[3] ertönt – erst leise die letzten düsteren Takte des Largo, bis der 1. Satz verstummt und fließend der Übergang zum kraftvollen Allegro molto, sogleich anschwellend das Tempo. Der erste Geiger spielt rasant und augenblicklich trete ich einen Schritt zurück, jetzt beidbeinig im festen Stand. Ich hole Schwung, das linke Bein voran gesetzt … und über rechts erfolgt der Sprung! Gazellengleich lande ich auf allen vieren, wenn auch nicht weich, doch wenig nur geschürft meine Haut, unter schwarzer Hose. Mein Herz, das pocht, verdreifacht ist des Schlages’ Klang. Dennoch ich überwand, heldinnenhaft, die Grenzen meiner Angst. Mein Schluchtsprung ist ein Befreiungsschlag, er wird nicht zuletzt bleiben als Wort zum Tag.

Das Panorama. Unter mir ein Blättermeer und über mir ein Wolkenmeer und dazwischen ich, ein Menschenleib. Gestrandet auf einem Felsvorsprung, verharrend. Meine Gedanken abwartend, sie legen sich schließlich erschöpft zur Ruh’. Ich stehe da und sitze dort, mein Körper kauernd, die Sinne lauernd, ehrfürchtig im Antlitz der Natur – betrachte ich das Bild und sauge dürstend jene Pinselstriche in mich auf: Wie kraftvoll die Sonne sich nun bemüht, zärtlich einzelne Wolken, und ihre Strahlung schimmernd die Erde, berührt. Wie mächtig die Sonne die einzelnen Ebenen erhebt, gefühlt die Landschaft aus ihrer Zweidimensionalität. Wahrhaftig ein Gemälde, geschaffen durch Licht und Schatten, dazwischen hauchzart Nebelschwaden. Und am Ende des Horizonts die Welt in Auflösung begriffen, einzig die Kronen der Bäume den Himmel sanft küssen.

Tag 2, rechtselbseitig

Lang und bewusstlos war mein Schlaf. Ich öffne die Augen und bin sogleich beschwingt, ein neuer Tag beginnt. Mein Plan für heute, ausgeklügelt: Eine Wanderung rechts der Elbe und auf, auf in den Nationalpark Sächsische Schweiz. Der ca. 90 km² kleine Nationalpark ist neben dem der Böhmischen Schweiz und einem tschechischen und einem deutschen Landschaftsschutzgebiet eine der vier Regionen des Elbsandsteingebirges und „[…] mit etwa
500 heimischen Blütenpflanzen- und rund 200 Wirbeltierarten ein biologisches Schatzkästchen. Zahlreiche seltene Arten haben hier ihr letztes Refugium. Zugleich ist es mit seiner dramatischen Landschaft die touristische Hauptattraktion der Region.“[4] Diese „dramatische Landschaft“ hat seinen Ursprung in der Kreidezeit vor etwa
140 Millionen Jahren, in Zahlen: 140 000 000. Damals befand sich der Landstrich unter Wasser, auf dessen Boden sich Sand und Schalen von Krustentieren ablagern, nach und nach zu einer 700 m starken Sedimentschicht auftürmen und schließlich zu Sandstein verfestigen. Millionen Jahre später dreht sich die Welt: Erhebung und andauernde Erosion des Gesteins formen bizarr das Gebirge. Das Meer entschwindet, und auch die Dinosaurier. Millionen Jahre später: Mit Sack und Pack, ich ziehe los.

Jedoch abermals Verzögerung. Der Zutritt zum Wald bleibt mir verwehrt, der Wanderweg ist abgesperrt. Ein Hinweisschild ausdrücklich warnt, vor einer konkreten Lebensgefahr. Ich blicke mich um, wäge ab und weiß unmittelbar – ich fordere dich nicht erneut heraus, mein Schicksal! Doch welch’ Gefahr lauert eigentlich in diesem dunklen Reich? Der Fall der Bäume, totgeweiht.[5] / Im Angesicht des Todes wende ich mich ab und gehe zwei, drei Schritte weiter. Schließlich tauche ich ein in eine magische Welt aus Laub und Stein. Ein Ort, an dem man sich schaurig-schöne Märchen erzählt und modrig der Geruch und feucht die frühtageszeitliche Luft. Zeitgleich strahlt der Himmel azur, und in der Ferne erklingt sonnenscheinlich der Frühling dazu. Ich: schlendere zwischen geschichteten Felswänden, hindurch. Flaniere an tonnenschweren Gesteinen, vorbei.

[Grün bemoost sind eure Körper.
Meine Finger streifen sanft.
Haut auf Haut,
Liebkosend.
Glücklich, der Moment.]

Passiere Wege, mit Wurzelwerk gepflastert, Stufe um Stufe hinauf.

Aussicht, Schrammsteine. Sogleich präsentiert sich majestätisch eine mehrgipflige Felsenwand, ausgefranzt. Davor ein Schattenspiel einen Abgrund imaginiert: Glasklares Wasser spiegelt die schroffen Steine wider. Dunkelheit bedeckt die Unterwelt, liegt darnieder und nebenan dürsten Baumgerippe. Ui! Lieber schnell will ich den Ort verlassen, vernehme noch Gelächter. Grölt hier im Hintergrund der Hades? Ach nein, nur ein Mensch war es.

Der letzte Schritt, ich mache Rast – und lasse den Blick schweifen, in die unendlichen Weiten. Ehrfürchtig fühle ich den Einklang der Natur, den Weltenlauf. Ich atme aus. Wasser einst hat Stein geformt.

Interesting!

„Das weltberühmte Gemälde »Der Wanderer über dem Nebelmeer« schuf Caspar David Friedrich 1818 nach Skizzen, die er während seines Aufenthaltes in der Sächsischen Schweiz angefertigt hatte.“[6]


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[1] Der Malerweg zählt zu den schönsten Wanderwegen in Deutschland. Der Rundweg ist 115 km lang und kann in acht Tagestouren moderat erwandert werden. Sein Name nimmt Bezug auf die zahlreichen Kunstwerke, die von dieser beeindruckenden Landschaft geschaffen worden sind.

[2] Das Elbsandsteingebirge: So schön. So. wild. So geheimnisvoll. In: Sächsisch-Böhmische Schweiz. Wandern im Elbsandsteingebirge (Pirna, 15. Auflage), Seite 1.

[3] Dmitri Schostakowitsch, Streichquartett Nr. 8 c-Moll op. 110.
Schostakowitsch komponierte das Werk 1960 in Gohrisch und schreibt in einen Brief an Isaak Glikman „Ich dachte darüber nach, dass, sollte ich irgendwann einmal sterben, kaum jemand ein Werk schreiben wird, das meinem Andenken gewidmet ist. Deshalb habe ich beschlossen, selbst etwas Derartiges zu schreiben.“
Vergleiche hierzu: https://www.schostakowitsch-tage.de/schostakowitsch/streichquartett-nr-8/, aufgerufen am 09.04.2022.

[4] Nationalpark Sächsische Schweiz. Grünes Wunder. In: Sächsisch-Böhmische Schweiz. Elbsandsteingebirge:
Wilde Schönheit / Urlaubsmagazin Sächsische Schweiz (Pirna, 2022), Seite 16.

[5] „Drei Jahre Dürre und Borkenkäfer haben für eine dynamische Entwicklung gesorgt. Die [flachwurzelnden] Fichten, die dort großflächig wuchsen, sind in den letzten Jahren fast vollständig abgestorben und brechen immer mehr um.“
In: Sächsische Schweiz, Bad Schandau. Gästeinformation (Bad Schandau, 2021), Seite 48.
Doch „dort, wo kahle Fichten wieder Licht auf den Boden lassen, beginnt schon das Wettwachsen neuer Bäume. Nicht Waldsterben, sondern natürliche Waldentwicklung nennt die Nationalparkverwaltung den Prozess. […] Zum ersten Mal seit
200 Jahren darf der Wald sein eigenes Gleichgewicht finden.“
Natürliche Waldentwicklung. Wald im Wandel. In: Sächsisch-Böhmische Schweiz. Elbsandsteingebirge: Wilde Schönheit / Urlaubsmagazin Sächsische Schweiz (Pirna, 2022), Seite 18-19.

[6] In: Sächsisch-Böhmische Schweiz. Wandern im Elbsandsteingebirge (Pirna, 15. Auflage), U4.

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Kummerower See, die Wiederentdeckung des Moores