Belgien, eine Welt voller Bilder


Rue d’Argent, Rue Léopold, rechts, links, Rue de la Fourche, Rue de Marché aux Herbes, nach rechts in die Rue Chair et Pain … geschwind geradeaus. Ich betrete den Grand Place, den Grote Markt. Soeben erst bin ich in Brüssel, der belgischen Hauptstadt, angekommen, habe mein Hostel-Doppelstockbett (oben) bezogen, bin in den Waschsalon um die Ecke gelaufen und eine Stunde und vier Euro sechzig später mit frischer Wäsche aus Waschmaschine Nummer neun zurückgekehrt. Meine Gedanken sind noch ganz besessen, glückselig berührt: Hinter mir liegt ein grandioses Wochenende. Verbracht in Antwerpen, verbracht mit zwei Herzensmenschen, die ich vor zwei Jahren in Vietnam kennengelernt habe. Stop! Ich betrete den Grand Place, den Grote Markt – und die Welt steht still. Vor mir das Rathaus, majestätisch. Gotische Architektur, Spitzbogen-Fenster, der solitäre Turm dem Himmel entgegen. Rechts, links, schlanke Gildehäuser. Fensterfronten, Giebel verschnörkelt, Außenwände: Golddetails. Die barocke Fassade, sandsteinfarben, figürlich geschmückt. Zwei Falken kreisen über dem Häuserensemble. Eine Pferdekutsche, wartend, mittig auf dem Platz. Dieser ist so schmal angelegt, ich fühle mich beengt und fühle mich befreit. Hinter mir ein Gebäude mit Säulengang, zweistöckig. Und die Welt steht still. Physisch bewegungslos auch ich, doch herzergriffen. Vier Minuten, fünf Minuten. Ich verstehe nicht, was gerade mit mir passiert. Ich verstehe nicht. Später erkenne ich, dass ich ohne eine noch so kleine Vorstellung an diesen Ort gekommen war und hinterrücks erstaunt worden bin. Welch’ seltener Genuss in einer Welt voller Bilder!

Eine Woche zuvor. Nachtzugreise nach Belgien. Zugegebenermaßen etwas beschämt gestehe ich: Es ist das erste Mal, dass ich mein Nachbarland besuche. Erste Station, Gent. Eine westeuropäische Studierendenstadt präsentiert sich im Sonnenschein, reges Treiben, fröhliches Lachen, in Straßencafés: Menschen Bier trinkend. Es ist 13 Uhr als ich mit einer Tüte Gentse Neuzen // Eine belgische süße Süßigkeit. // in der Hand durch die Stadt schlendere, entlang der kleinen Kanäle, auf denen Touristen:innenboote schippern, vorbei an mittelalterlichen Giebelhäusern. Nicht lange zögernd besichtige ich sogleich eine erste Sehenswürdigkeit. Die Sehenswürdigkeit der Stadt, den Genter Altar. Das knapp vier Meter hohe und etwas über fünf Meter breite Triptychon wurde Anfang des 15. Jahrhunderts von den van Eyck-Brüdern geschaffen und gilt als eines der bedeutendsten Kunstwerke der altniederländischen Malerei. Farbenprächtig und in beeindruckender Detailtreue erzählt es auf zwölf Tafeln die Geschichte der Anbetung des Lamm Gottes aus der Offenbarung des Johannes. Doch nicht nur das Kunstwerk fasziniert, sondern auch dessen Geschichte. So überlebte es heldenhaft den Bildersturm der Calvinisten im 16. Jahrhundert, um darauf erst von den Franzosen, dann von den Deutschen verschleppt zu werden – doch der Tafelaltar kehrte immer wieder nahezu vollständig // Die Tafel der Gerechten Ritter, links unten, gilt weiterhin als verschollen und ist in Kopie ausgestellt. // nach Hause zurück. Dies alles erfahre ich in einer Virtual-Reality-Führung durch die Katakomben der St.-Bavo-Kathedrale. Später betrete ich im Museum für zeitgenössische Kunst (S.M.A.K.) erneut eine virtuelle Realität. Eine fiktive Mitarbeiterin führt, ebenfalls fiktive, Besucher:innen durch das Museum und gibt ihnen Empfehlungen zur Bilderauswahl, persönlich zugeschnitten und philosophisch unterlegt. Eine Metaebene aus dem Off greift vereinzelt moderierend in das Gespräch. Ich lausche diesem eine Weile, bevor ich meinen Rundgang fortsetze. Im Nebenraum, Mark Grootes’ Hommage an den Rhododendron.

Alte Kunst, neue Kunst – eine Welt voller Bilder. In Brügge verlaufe ich mich in den mittelalterlichen Gassen ohne Bäume, finde meinen Weg zurück und besuche weitere Klassiker der Kunstgeschichte. Tauche ein in einen Mikrokosmos aus schattierten Farben und gleichsam bunten Erzählungen. Besonders eindrücklich: die Gerechtigkeitstafeln von Gerard David von 1498. Auf diesen wird der Richter Sisamnes dargestellt, der durch Korruption in Ungnade verfällt und bei lebendigem Leib gehäutet wird. Hier: Kunst als Mahnung, und als Warnung. In Brüssel erfahre ich mehr über die kulturgeschichtlichen Hintergründe und aktuellen Strömungen der sogenannten Neunten Kunst und treffe an Häuserecken und in Open-Air-Ausstellungen, schließlich im Belgischen Comic-Zentrum die Helden meiner Kindheit wieder: Tim und Struppi, Lucky Luke, die Schlümpfe…

Ich bin wieder unterwegs! Wie schön sich das anfühlt – wie lebendig ich das Blut in meinen Adern zirkulieren spüre, wild und freiheitlich. Noch kurz vor meiner Abfahrt hatte ich kein Bild zu mir auf Reisen. Zu lange stand mein Rucksack ungenutzt in der Ecke, langsam verstaubend. Doch nun erkunden wir endlich wieder gemeinsam die Welt, und ich bin ganz bei mir. Ich laufe durch die Straßen und lasse das Leben auf mich wirken. In einem Moment halte ich inne, mache Rast und schaue euch, Bürger:innen Belgiens, zu. Frage mich, was sind eure Träume? Sind sie verschieden zu meinen, und was sind meine? Manchmal verliere ich mich in meinen Gedanken. Und manchmal ertappe ich mich lächelnd in Momenten einer vollkommen geistigen Stille. Dann schaue ich in den Wolkenhimmel, wunderschön. Doch schon einen Augenblick später erfreue ich mich wieder, nun an formvollendeter Bahnhofsarchitektur. Ich steige in den Zug, die Welt im Panoramafensterblick, und steige empor, unzählige Wendeltreppenstufen eines Glockenturms, allein um diesen einen Blick nach unten zu richten. Am Abend betrachte ich sodann die gelb-schimmernde Beleuchtung der Städte und kehre tagsüber in Kirchen ein, hier: schüchterne Sonnenstrahlen in Buntglasfensterreflexion.

Freitagnacht, Bar Paniek. Es regnet in Antwerpen. Vor ein paar Stunden hat Rosy mich vom Bahnhof abgeholt, nun sitzen wir an der Theke und trinken Bier. Mit uns eine Vielzahl an Menschen, denen du mich vorstellst. Viele Gespräche, Stimmengewirr. Was ist passiert in deinem Leben, und in meinem? Zwei Jahre sind vergangen, seitdem wir uns in Vietnam kennengelernt haben. Unsere gemeinsame Zeit in den Bergen des Nordens und in Ha Noi war kurz und intensiv. Dazwischen gelegentlich ein Chatgespräch, ein Like und viele Herzchen. Heute: Wir erinnern uns an erzählte Geschichten unseres Lebens. Geschichten, die uns noch immer bewegen. Wir waren Freunde vom ersten Moment – Wild is the wind, Rosy! – und so ist es auch jetzt. Ich bin gekommen, um Freunde wiederzusehen. Bert lässt auf sich warten. Doch schließlich kommt er regennass zur Tür hinein, ein Lächeln im Gesicht. Ich fühle mich zu Hause – und fortan lassen wir uns treiben. Industriegelände, ehemalige Schlachthaushalle, Soli-Party: ausgelassene Stimmung zu elektronischer Musik, Karaoke im Nebenraum. Unendlich ist die Nacht, die ich mit euch verbringe, tanze, lache. Noch ein Jupiler, Prost! Szenenwechsel, 24 Stunden später. Mitten im Leben. Ich kenne dich nicht und dennoch feiere ich hier mit dir deinen 40. Geburtstag, beglückwünsche dich zu deiner Lebensfreude, die den Raum und mein Herz gänzlich erfüllt. Unwissend schenkst du, Zufallsbekanntschaft, mir eine Idee für meine eigene Zukunft. Dir gleich werde ich das Leben feiern, glamourös im Goldpaillettenoberteil. Szenenwechsel. 24 Stunden später. Ein letztes Bier im Zeppelin. Eure Stammkneipe, eure Freunde – und ich dazwischen, mittendrin. „Nog een pintje?“ „Ja.“ Dank je wel, Rosy und Bert. ♡ 

Am letzten Tag meiner Reise schaffe ich noch den Schritt in die Natur. Von Liège sind es drei Stationen mit dem Zug in das nahegelegene Méry. Drei Stationen in eine andere Welt, unstädtisch. Steinhäuser säumen die Ourthe, diese plätschert verschlafen. Eine kleine Straße führt einen Hang hinauf, links ein Schleichweg in den Wald hinein, und schon bin ich in der Einsamkeit. Zwei, drei Atemzüge reine Luft, ein erfrischender Geruch, keine Menschenseele, dafür Vogelgesang. Die nächsten Stunden, abenteuerlich: Ich erklimme einen Aussichtspunkt auf 200 m. Bester Blick ins Tal, Bäume, Häuser, Wolkenmeer und vorsichtig lugt die Sonne mitunter auf das Blätterwerk. Weiter, immer weiter laufe ich leicht wackelig durch den Matsch in den Wald hinein, springe über Pfützen, überquere die Chawresse – und husch, husch rechts des Flusses die steile Anhöhe hinauf, kann mich kaum halten auf rutschigem Boden, werde gewahr, dies ist kein Weg und husch, husch den Abhang wieder hinunter, überquerend die Chawresse, ein kleines Flüsschen, reißender Strom. Ich verliere den Weg, das eine und das andere Mal. Ich bin verirrt, doch nicht verloren. Ich spüre keine Angst, stattdessen die belebende Kraft der Natur, und laufe einfach immer weiter.

Interesting!

Leider gibt es keinen vollumfänglichen, deutschsprachigen Individualreiseführer über Belgien – ein Skandal, wie ich finde. Lonely Planet hat ausgeholfen und mir ein paar interessante Details über das Land verraten: Die meiste Schokolade, weltweit, wird auf dem Brüsseler Flughafen verkauft. // Belgien war das zweite europäische Land, nach den Niederlanden, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat, in 2003. // Radsport ist Nationalsport in Belgien und dessen Held: Eddy Merckx. // Der erste Wolkenkratzer Europas wurde zwischen 1928 und 1931 in Antwerpen gebaut. // Die UNESCO hat das belgische Bier in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen, über 1.000 verschiedene Sorten gibt es. // Karl V. wurde 1500 in Gent, Jean-Claude van Damme 1960 nahe Brüssel geboren. // Die Urbanisierungsrate Belgiens liegt bei 98% und belegt damit Platz 11 im Ländervergleich. // Das größte elektronische Musikfestival der Welt findet jährlich in der Nähe von Antwerpen statt. 2019 besuchten 400.000 Menschen das Tomorrowland, die Karten waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.

PS: Das EU-Parlament in Brüssel habe ich auch besucht. Mega aufgeregt, im Zentrum der Macht.

Zurück
Zurück

Sardinia – in the middle of the sea

Weiter
Weiter

Belgium, a world full of images