Vietnam: manchmal passt es einfach nicht, dachte ich – denke ich


Ach Vietnam, warum lässt du mich so verwirrt zurück? Vier Wochen habe ich mich wahrhaftig an dir abgearbeitet: Angestachelt durch meinen Reiseführer bin ich voller Motivation ins Land gereist, ich wollte Land und Leute kennenlernen, die Geschichte hinterfragen – besonders aus dem Blickwinkel meiner eigenen Vergangenheit –, ich war aufgeregt, im besten Sinne. Ich bin in 30 Tagen – so lange gilt das E(lektronische)-Visum – vom Mekong-Delta im Süden bis an die chinesische Grenze im Norden gereist // → Das sind ca. 1650 Kilometer. Zum Vergleich: Deutschlands nördlichster Punkt ist vom südlichsten auf ca. 900 Kilometern getrennt // und dabei an 9 verschiedenen Orten gewesen. Doch manchmal passt es einfach nicht, denke ich nachdem ich im Süden gewesen bin; dachte ich, denke ich, als ich im Norden bin; denke ich, denke ich immernoch.

Vietnam, das südostasiatische Land schlängelt sich entlang der Küste zum Südchinesischen Meer. 95 Millionen Einwohner:innen leben hier, die Zahl hat sich seit den 60er Jahren verdreifacht. Bis zum Schluss und darüber hinaus frage ich mich, wo all die Vietnames:innen wohnen. Das Stadtbild ist geprägt von schmalen, kleinen Häusern und auch in den Randgebieten konnte ich nie Herbergen für Millionen von Menschen entdecken. Fast 90 % der Bevölkerung sind ethnische Vietnames:innen, die restlichen 10 % bestehen aus 53 staatlich anerkannten ethnischen Minderheiten, die vor allem im hohen Norden und im tiefen Süden, die Kultur des Landes prägen // → z.B. die Tai-Völker im Norden an der chinesischen Grenze oder die Khmer nahe Kambodscha //. Vietnam ist (leider) vor allem durch den Vietnamkrieg, hier auch oft: der amerikanische Krieg, (1955/1964 – 1975) bekannt. Doch ich stelle fest, dass ich außer ein paar Eckdaten und Emotionalitäten aus amerikanischen Filmen nichts weiß // → Als ausführlicher Einstieg ist die 10-teilige Doku-Serie "The Vietnam War" der amerikanischen Filmemacher Ken Burns und Lynn Novic zu empfehlen //. Nicht, dass Vietnam einst eine französische Kolonie gewesen ist; nicht, dass Frankreich nach dem 2.Weltkrieg seine Besetzung fortzusetzen gedenkt // → 1.Indochinakrieg (1946 – 1954) //; nicht, dass auf der Konferenz in Genf 1954 die Teilung am 17. Breitengrad beschlossen wird, zunächst als Provisorium mit freien Wahlen nach 2 Jahren // → Vietnam wird offiziell 1976 – 20 Jahre später – wiedervereint. Auf einer geführten Tour durch verschiedene Stationen der "Demilitarisierten Zone" entlang des 17. Breitengrades frage ich, ob die Wiedervereinigung heute abgeschlossen ist, ob sich die Vietnames:innen als ein Volk fühlen. "Ja." – Hmm, irgendwie ist mir die Antwort zu kurz, zu schnell, zu glatt. Aber vielleicht ist es auch genau so, und das "die Anderen" war nie ein Thema hier. // usw., usw. Schließlich ist Vietnam vor allem eines: Schauplatz eines Stellvertreterkrieges zwischen den zwei mächtigsten Rivalen, dem Kommunismus und dem Kapitalismus. Aber die Vietnames:innen // → Absolut empfehlenswert, das Women's Museum in Ha Noi, das u.a. die Geschichte der Frauen zur Zeit des Krieges beleuchtet. // lassen sich nicht instrumentalisieren, und so entsteht ein Kampf "David gegen Goliath". Vietnam gewinnt, wenn man das sagen kann bei allein 3 Millionen im Krieg Getöteten und noch heute katastrophalen Folgen durch den Einsatz der chemischen Waffe Agent Orange // Hierzu sehenswert: Das War Remnants Museum in Sai Gon //.

Eingangsbereich, Frauen-Museum

Eingangsbereich, Frauen-Museum

Mein erster Tag in Vietnam beginnt abgezockt. Ich hatte gelesen, dass es die für Vietnam typischen Cyclo-Fahrgeschäfte aufgrund von Verboten bald nicht mehr geben wird. Den Hauch der Vergänglichkeit spürend lasse ich mich zu einer Fahrt überreden. Vielleicht macht es ja Spaß, denke ich, vielleicht sollte ich mein Misstrauen über Bord werfen – oder vielleicht auch nicht. Nach einer ziemlich kurzen Fahrt, die mich – wie ich erst später sehe – keineswegs an mein Ziel gebracht hat, und einem Gespräch über Michael Ballack und dessen Hochzeit (!), soll der vereinbarte (!) Preis auf 500.000 Dong // → entspricht 20 Euro // verzehnfacht werden. Bitte, was? Probates Mittel, denkt mein Cyclo-Fahrer: Tränen. Aufgrund der zehnfachen Unverschämtheit bin ich aber richtig sauer. Schließlich, weil ich den vereinbarten Preis nicht passend habe, gebe ich ihm ein bißchen mehr und verlasse den Ort des Geschehens: Kein guter Start! Am letzten Abend in Vietnam wird mir in Ha Noi mein Portemonaie und mein Handy (mit all meinen Notizen für diesen Artikel) geklaut. Kein gutes Ende! Das ist der Rahmen, in dem ich mich bewege.

Reklame, truly said

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Und trotzdem bin ich zunächst fasziniert vom pulsierenden Leben in Ho Chi Minh-Stadt // → früher Sai Gon, noch heute nennt es jede:r so //. Eine Stadt kurz vor dem Nervenzusammenbruch: Alles bewegt sich hier 24/7, alles lebt, alles schreit – besonders der Verkehr // → Ich lese die Zahl 5 Millionen Roller auf 9 Millionen Einwohner:innen //. Dieser Verkehr ist wahrhaftig todesgefährlich! 1) Ampeln existieren nicht, also physisch schon, aber ohne Farbbedeutung. 2) Fußgängerwege existieren nicht, also physisch schon, aber sie sind der Parkplatz für Roller und die Stühle der Cafés // → Vietnam hat eine wunderbare Kaffeekultur //. 3) Fußgänger:innen existieren nicht, also physisch schon, wenn auch wenige, aber sie sind keine Größe im Verkehr, auf die man zu achten hätte. 4) Das ewigwährende Konzert der Hupen. 5) Die Luft, die so schwierig zu atmen ist. Aber, wie man an mir sieht, man kann es überleben. Folgendermaßen: Mut, den ersten Schritt zu tun; langsam, aber stetig laufen – Nicht stehen bleiben! –; in alle Richtungen schauen – ständig; sich nie, wirklich nie, auf der sicheren Seite fühlen. In Ha Noi bin ich fast schon Halbprofi.

Kaffee mit gezuckerter Milch

Kaffee mit gezuckerter Milch

Nun schimpfe ich schon ganz schön viel. Aber das ist ja nur die eine Seite.

In Vietnam, hier: Hoi An und Tam Coc, nahe Ninh Binh, fahre ich das erste Mal seit sechs Monaten wieder Fahrrad, und liebe es – zwischen den Reisfeldern fühle ich mich frei. Ich bade in himmlichsten blau-blauen Südchinesischem Meerwasser, und fühle das Leben. Ebenfalls, als ich um fünf Uhr morgens mit dem Roller für eine Tour im Mekong-Delta abgeholt werde. Der Sonnenaufgang in letzten Zügen. Ich verliebe mich in die nordvietnamesischen Kalksteinfelsen // → in Tam Coc und der Halong-Bucht //, die wie Pilze aus dem Boden wachsen. Ich werde offizielle Freundin gezuckerter Kondensmilch. Ich freue mich über jedes Lächeln, über jedes Gespräch mit, vor allem jungen, Vietnames:innen. Ich erfahre leise, dass sie in Sorge sind, ob der rasanten Entwicklung des Tourismus, und der Folgen, die scheinbar nicht einkalkuliert werden. Und ja, man sieht es. Überall wird gebaut – fast besinnungslos aufgebrochen und abgeholzt, gehämmert, zementiert. Aber wer sollte einem Land Wohlstand verwehren, das noch in den 90er Jahren zu den Ärmsten der Welt gehört hat? Ich weiß es nicht.

Ach Vietnam, warum nur lässt du mich so verwirrt zurück?

Interesting!
Die einbalsamierten Überreste des Staatsgründers und der Galionsfigur der Vietnames:innen Ho Chi Minh befinden sich im Ho Chi Minh-Mausoleum in Ha Noi. Das Mausoleum kann unter strenger Bewachung, ohne Kameras und ohne ungebührliches Verhalten und ebensolcher Kleidung besucht werden, doch nicht von September bis Anfang Dezember eines Jahres, denn da befindet sich Onkel Ho in Russland zur Pflege seines Balsams. Übrigens: Ho Chi Minh wollte eingeäschert und seine Asche über das ganze Land verteilt wissen.

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Thailand – ich komme wieder